20120207

Günter Heuzeroth: Humanitäre Hilfe (Buchbesprechung)

Der Koala würde sich gerne freuen, aber so recht begeistert ist er nicht.

Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, heißt es so schön. Dieses Buch bekam ich vom Verfasser geschenkt, und doch will ich jetzt diesem Gaul ins Maul schauen – keine Sorge, eine bloße Gefälligkeitsrezension als Gegenleistung für das Buchgeschenk wird es wohl nicht werden.
Das Buch „Humanitäre Hilfe für Deutschland nach den beiden Weltkriegen“ ist schon 2009 erschienen. Ich muss um Entschuldigung bitten, dass ich erst jetzt die Zeit fand, es zu besprechen. Da ich keine Bücher rezensiere, die ich nicht vollständig gelesen habe, komme ich leider nur noch sehr selten zu Buchbesprechungen. Fünf Abende für das Lesen und einen zusätzlichen Abend für das Recherchieren und Schreiben habe ich dafür investiert.
Zunächst und an erster Stelle meinen Glückwunsch und Dank an den Verfasser Günter Heuzeroth, dass dieses Buch fertig wurde – keine Selbstverständlichkeit in unserer Zeit.
Ich kenne die Hindernisse gut, bis man so ein Projekt abgeschlossen hat: die investierten Stunden/Jahre, die Zweifel, die Schwierigkeit, einen Verlag zu finden, die demotivierenden Sprüche (älterer) Quäker: „Lass das doch die DJV machen...“; „Das interessiert doch niemanden“; „Bitte nenne bloß keine Namen...“ – Heuzeroth hat sein Projekt dennoch umgesetzt, und solche „Ratschläge“ zum Glück ignoriert.
Vielleicht sind an dieser Stelle einige Worte zum Verfasser angebracht: Günter Heuzeroth, geboren 1934, arbeitete als Religionspädagoge, Heilpädagoge und Drogentherapeut. Gleichzeitig hat er sich intensiv mit Geschichte beschäftigt und eine mehrbändige Buchreihe zum Nationalsozialismus im Bezirk Weser-Ems verfasst. Hier schreibt also jemand, der historisches und sozialpädagogisches Interesse und Expertise verbindet – eine Kombination, die mir sehr sympathisch ist und die eine gute Voraussetzung bietet, sich mit einem historischen Quäkerthema zu beschäftigen.
Sein Buch wurde von der „Gertrud und Hellmut Barthel-Stiftung“, vom Bezirksverband Oldenburg und von der OLB-Stifung der Oldenburgischen Landesbank unterstützt. Und wie viel, fragt man sich, hat die DJV gestiftet? Keinen müden Euro. Während Kanufahrten und jährlich Delegierungen in die ganze Welt üppig bezuschusst werden, war man nicht bereit, Heuzeroths Buch auch nur mit einer kleinen Summe symbolisch zu unterstützen. Es ist eine Schande, und wenn die Quäker in Deutschland tatsächlich ein drittes Mal (nach 1740 und 1892) eingehen, dann doch auch an mangelnder Bereitschaft, öffentlich präsent sein zu wollen. Warum das Buch, in dem es doch dezidiert um deutsche Quäker geht, auf der Homepage der DJV nicht angeboten wird, in der Zeitschrift „Quäker“ nicht besprochen wurde und in der Berliner Quäkerbibliothek noch nicht einmal angeschafft wurde, kann ich mir überhaupt nicht erklären, ich bin auch nicht verantwortlich dafür.
Wo man überhaupt das Buch erwerben kann oder soll, ist mir leider schleierhaft: kein von mir konsultierter Onlinedienst (Amazon, Bookbrooker, Abebooks) hat das Buch gelistet, und auch bei Dussmann (einem großen Berliner Medienhaus) war mein (hartnäckiges) Nachfragen erfolglos. Hier ist also wieder einmal ein Quäkerbuch geschrieben worden, dass gar nicht oder nicht mehr erhältlich ist. Ich schreibe also eine Antiquariats-Rezension, was mir leider erst am Ende aufgefallen ist. Hätte ich es gleich bemerkt, dass dieses Buch schlicht inexistent ist, hätte ich mir die Mühe nicht gemacht.
Aber – was haben wir denn jetzt eigentlich vor uns?? Es geht, wenn man dem Titel Glauben schenkt, um „Humanitäre Hilfe für Deutschland nach den beiden Weltkriegen“. Das stimmt aber nicht ganz, denn es geht in dem Buch auch um Belgien, Holland, Österreich, Polen und Russland – man müsste also von „humanitärer Hilfe für Europa“ sprechen – vermutlich hat einer der Geldgeber aus irgendwelchen Förderrichtlinien diesen irreführenden Titel durchgesetzt. Es beginnt auch nicht in Deutschland, sondern in den USA: Hoover und seine Mitarbeiter werden vorgestellt, die ersten Hilfsbestrebungen, die Frage um die Versöhnung mit dem ehemaligen Feind. Schon bei diesem ersten Kapitel fällt ein Problem auf, welches sich durch das gesamte restliche Werk zieht: Der ganze wissenschaftliche Apparat ist eine Katastrophe. Wo ist das Literaturverzeichnis? Wo ist das Abbildungsverzeichnis? Es werden Titel genannt, die nirgendwo angeführt sind (nur ein Beispiel: auf S. 20 wird ein oder eine „Adlgasser“ zitiert, auf S. 21 ein oder eine „Lochner“ usw. – doch wer das alles sein soll, erfährt man nirgends. Dr. Petra Schönemann-Behrend, die dieses Buch übrigens exzellent lektoriert hat (ich fand nicht einen Tippfehler) hätte dies eigentlich auffallen müssen. Vielleicht ist das Literaturverzeichnis eingespart worden, um den Druck unter 200 Seiten zu bringen?
Es scheint mir, also ob der Autor mit dem Buch vor vierzig Jahren angefangen hat und seitdem die Neuerscheinungen einfach nicht mehr beachtet hat. Das kann durchaus sein. Aber auch das Internet gibt es bereits seit zehn Jahren, und da hätte man doch von den Neuerscheinungen (eigentlich sind es ja auch schon wieder Alterscheinungen) erfahren müssen: Jack Sutters zwei Bände der Serie „Archives of the Holocaust“ von 1990 (DAS Standartwerk zu jeglicher Quäkerforschung über die NS-Zeit): Fehlanzeige. James Irvin Lichtis neueste Monographie „Houses on the sand? Pacifist denominations in Nazi Germany“ (2008): Fehlanzeige. Achim von Borries’s „Quiet helpers. Quaker service in postwar Germany“ (2000): Fehlanzeige. Robert McCoys „Planting the good seed. Letters from a Quaker relief worker“ (2007): Fehlanzeige. Hunderte Fachaufsätze englischer, amerikanischer, holländischer, deutscher Autoren – Heuzeroth kennt keinen einzigen. Man muss und kann vielleicht auch nicht alle lesen – aber sich ausschließlich auf ganz wenige, völlig veraltete Arbeiten zu berufen ist eine Merkwürdigkeit, die ich einfach nicht verstehe, zumal der Autor ja den Fleiß hat, ein ganzes Buch zu verfassen. Wer aber ein Fachbuch schreiben möchte und derart die Meinungen anderer Autoren ignoriert, ja verachtet, der darf sich über Beschwerden nicht wundern.
Das nächste Kapitel „Die Entstehung des Quäkertums“ basiert einzig und allein auf Heinrich Ottos „Wesen und Werden des Quäkertums und seine Entwicklung in Deutschland“ von 1970 – die gesamte, reichhaltige angloamerikanische Literatur wurde ignoriert. Ich bin nicht bereit, die Fehler, die sich hier eingeschlichen haben, hier fleißig zu korrigieren – ein paar Blicke in neuere Arbeiten hätten hier gut getan. Wir gehen weiter zu dem Kapitel „Humanitäre Hilfe für Deutschland“. Auch dieses Kapitel ist seitenweise abgeschrieben, diesmal von Ruth Frys Lebenserinnerung „Ein Quäker-Wagnis“ von 1933 – eine Arbeit, die man aus verschiedenen Gründen heute nicht einfach als „Forschungsliteratur“ ausgeben darf. Erst peu à peu, ab Seite 52, kommen auch neue Quellen zu Wort, und da wird es dann auch interessant. So hat Heuzeroth herausgefunden, dass die Quäker umfangreich von der Deutschen Regierung unterstützt wurden (S. 53), was in den Eigendarstellungen der Quäker meist nicht erwähnt wird. Schwerpunkt der humanitären Tätigkeit ist hier einmal nicht Berlin oder Wien, sondern – Oldenburg. Warum gerade Oldenburg, wird nicht begründet, vermutlich deswegen, weil der Verfasser heute dort wohnt. Die Teile zu Oldenburg sind das Glanzstück des Buches, und hier trägt der Verfasser doch wirklich Neues und Interessantes bei; ganz im Gegensatz zum Teil „Die Quäker in der NS-Diktatur“ – erneut wird hier so gut wie nur Ottos Buch zitiert, die Seite 75 beispielsweise besteht fast nur als Otto-Zitaten – nun, da kann man gleich das Original lesen. Auch wurde bei diesem komplizierten Abschnitt Quäkertum und Nationalsozialismus die gesamte Fachliteratur der letzten fünfzig Jahre vollständig ignoriert, sogar Hans Schmitts „Quakers and Nazis“ (1997) scheint Heuzeroth nicht einmal bekannt zu sein. Dabei werden die Otto-Passagen noch nicht einmal kommentiert oder kritisch hinterfragt - es kommt daher zu überholten Aussagen wie: „Gerhard Halle wird schon im Jahr 1933 als Beamter entlassen, weil er bei einer Veranstaltung, wie es heißt, ‚pazifistische Tendenzen’ geäußert haben soll“ (S. 77). Warum Konjunktiv? Neuere Publikationen belegen, dass er das nicht „geäußert haben soll“, sondern es ist eindeutig belegt.
Kommen wir zur „Stunde Null in Oldenburg“, einem Kapitel, in dem die Ausgangslage nach 1945 geschildert wird – diesmal so gut wie ausschließlich nur an einem kleinen, aber durchaus wertvollen Büchlein von Magda Kelber (S. 115-116 bestehen nur aus Kelber-Zitaten, die nicht einmal interpretiert oder kontextualisiert wurden). Die Quäker haben die Not auf vielfältige Art und Weise gelindert, nicht nur durch die berühmte, sprichwörtlich gewordene „Quäkersuppe“ – sondern auch durch Ofenaktionen (S. 124) und sogar mit Möbeltransporten (S. 125). Immer, wenn der Verfasser aus dem Oldenburger Archiv zitiert, ist man ganz direkt am Geschehen, als würde man die Zeit miterleben. Zahlreiche Einzelheiten werden ausgebreitet, von denen andere Wissenschaftler noch profitieren werden. So ist mir völlig neu, dass es damals wohl eine spezielle Quäker-Sitte war, bei Feierlichkeiten einen Teller mit Weißbrot, Salz und Schmalz zu reichen (S. 165). Und man bekommt auch seltene Fotos präsentiert, wie vom Quäker-Advents-Lichterteppich (S. 185). Diese Passagen sind auch sprachlich exzellent geschrieben, egal, wo man einsteigt, wird man von dem Text mitgerissen. Das ist erfreulich, vor allem, wenn ich an die zahlreichen engagierten Dissertationen und anderen Fachpublikationen zu den Quäkern denke, die oftmals mühselig erarbeitet wurden, aber sprachlich eine Katastrophe sind.
Bei der Aufarbeitung der Oldenburger Quäkergeschichte scheint Heuzeroth auch mit Zeitzeugen gesprochen zu haben, v.a. mit Frank Farnell, Geoffrey Wareing, Werner Zeuch und Walter Linnemann. Diese Zeitzeugenberichte sind das Wertvollste an dem Buch, denn man kommt man an Erinnerungen, die ansonsten verloren gegangen wären. Ich kann hier nicht auf die einzelnen Protokolle inhaltlich eingehen, nur feststellen, dass wir hier lebendige und authentische Erfahrungsberichte haben, die erschöpfend noch lange nicht ausgewertet sind. Wann die Interviews geführt wurden (1950? 1970? oder 2009?) hat sich mir nicht so recht erschlossen, ebenso, welche Methode hier angewandt wurde (vorstrukturiert, frei oder problemzentriert?).
Der Schluss des Buches hat mit dem Thema dann nichts mehr zu tun; es geht auf einmal um die „Oldenburger Quäkerfreunde von 1946 bis 1975. Sehr, sehr selten hat man das Glück, einmal etwas über das Leben einer kleinen Gruppe zu erfahren, über die Teilnehmer, die Beziehungen zur Jahresversammlung, den Neuanfang unter Klaus auf der Heyde und Anna Snoek.
Das Buch „Humanitäre Hilfe für Deutschland nach den beiden Weltkriegen“ ist also in erster Linie für Oldenburger ein Gewinn. Bezogen auf Deutschland wird nichts Neues präsentiert; die große Arbeit zur Quäkerspeisung bzw. zu den Quäkerhilfsdiensten steht also immer noch aus. Allein im Archiv von AFSC und im Bundesarchiv warten mehrere Meter allein an Statistiken, Fotos, ärztlichen Berichten, Kochrezepten etc. zu diesem gewaltigen Unternehmen, das ja Millionen Menschenleben rettete. Erst nach einer solchen Studie wird sich dann zeigen, ob regionale Hilfsdienste, wie etwa in Oldenburg, typisch oder Ausnahme waren.