20170430

Zum Reformationsjubiläum 2017: Martin Luther - George Fox

         Ein Beitrag zur religionsgeschichtlichen Vergleichsforschung:
           Luther und Fox. Luthertum und Quäkertum



                                          Ein methodisches Vorwort: der historische Vergleich                               
Die Geschichte des Luthertums und des Quäkertums fängt an, als diese Begriffe noch gar nicht existierten, denn es ist mit Martin Luther und George Fox im 16. bzw. 17. Jahrhundert zu beginnen. Da die Quäker rund 150 Jahre nach Luther entstanden sind, finden sich schon in ihrer Genese Elemente der Rezeption des Luthertums, was hier etwas näher vorgestellt werden soll.




                                                              Luther (links) und Fox (rechts)


Freilich: Ein Vergleich dieser beiden Personen, und im weiteren Sinne dieser beiden Glaubensgemeinschaften, bringt erhebliche Schwierigkeiten mit sich, da es sich um verschiedene Entstehungszeiten, verschiedene Glaubensformen sowie verschiedene Länder und Sprachen handelt.
Bevor nun ein Vergleich zwischen Luther und Fox vorgenommen werden soll, werden einige Worte über die Methode des Vergleichs vorauszuschicken sein.i In der Geschichtswissenschaft, weniger in der Theologie, aber vermehrt wieder in den Religionswissenschaften, hat man sich intensiv mit Vergleichen im Rahmen der historischen Komparatistik auseinandergesetzt. Seit 1991 gibt es sogar eine Zeitschrift, „Comparativ“, die sich dieser Methode verschrieben hat.
In der modernen Geschichtswissenschaft wurde schon seit Mommsen und Ranke verglichen, wohingegen die wissenschaftliche Reflexion des Vergleichs einhundert Jahre später einsetzte. Man kann also Vergleiche vornehmen und dabei glänzende Ergebnisse erzielen, ohne sich über das Instrumentarium bewusst zu sein, dessen man sich bedient. Erst Otto Hintze und Marc Bloch haben – letztlich ohne Erfolg – in den 1920er Jahren versucht, mit dem Vergleich nationalstaatliche Paradigma zu überwinden, deren Forschungen später von Hartmut Kaelble auf eine europäische Ebene gebracht und weiterentwickelt wurden. Eine bis heute anhaltende Diskussion hat die Vergleichsproblematik in der Zeitgeschichte, entstanden am Diktaturenvergleich des „Dritten Reichs“ mit der DDR, worin es aber weniger um die Methode, sondern um die politische Legitimität von Vergleichen geht.

Wie nun eine Methodik des Vergleiches aussehen könnte, ist höchst unklar und es gibt dazu unterschiedliche Ansätze, deren elementarer Unterschied darin besteht, ob man Phänomene aus einer oder aus unterschiedlichen Zeiten untersucht. Vergleicht man aus unterschiedlichen Zeiten, handelt es sich eigentlich um einen doppelten Vergleich, denn man untersucht nicht allein die beiden Phänomene, sondern auch den divergenten Zeithorizont.
Ein jeder Vergleich hängt jedoch ganz entscheidend von der Perspektive ab. Man kann das mit einem Mikroskop vergleichen: Mit einem kleinen Objektiv kann man viele Unterschiede festmachen. Mit jeweils größeren Objektiven werden sich die Gegenstände immer ähnlicher und gleichen sich an. Unterschiede bestehen nicht an sich, sondern sie liegen an der perspektivischen Einstellung und sind kulturell konstruiert. Die dabei vorgenommenen Begriffsbildungen, Abstraktionen und Synthesen beruhen in jedem Fall darauf, dass Biographie, Erfahrungswelten, Wissensdiskurse unter einem bestimmten Erkenntnisinteresse analysiert und auf einen übergeordneten, gemeinsamen Referenzhorizont bezogen werden. Das setzt Grundannahmen voraus, nämlich diese, dass 1. universelle und 2. zeitindifferente menschliche Fähigkeiten und Bedürfnisse sowie 3. Grundformen des symbolischen und sozialen Handelns existieren. Diese sind nicht naturgegeben, sondern werden von der jeweiligen Gesellschaft, Politik, Religion und Kultur hergestellt und dargestellt.
Bei alledem darf nicht vergessen werden, dass – auch wenn hier das Beispiel des Mikroskops gewählt wurde – die geschichtswissenschaftlichen Instrumentarien sich von denen der Naturwissenschaft unterscheiden. Es geht vielmehr darum, eine Sensibilität zu entwickeln gegenüber den Grenzen und Eigenheiten der Gegenstände, die man analysiert. Ein historischer Vergleich mindestens zweier historischer Persönlichkeiten (Luther versus Fox; oder Personengruppen: Quäker versus Lutheraner) will deren Ähnlichkeiten und Unterschiede anhand spezifischer, interessengeleiteter Fragestellungen in verschiedenen gesellschaftlichen Konstellationen und kulturellen Kontexten über einen dreihundertjährigen Zeit- und Erfahrungsraum hinweg verstehen und erklären. Je nach Interesse, Perspektive, religiöser oder politischer Einstellung werden unterschiedliche Gewichtungen vorgenommen; und nur so ist zu verstehen, weshalb ein und derselbe Unterschied bzw. ein und dieselbe Gemeinsamkeit von den einen als klein, gering oder akzidentiell, von den anderen als gravierend, fundamental und absolut betrachtet wird.


                                                                 Martin Luther und George Fox
Wie kaum anders zu erwarten, gibt es bei Gründerpersönlichkeiten religiöser Gemeinschaften – und anhand dieser Funktion soll der Vergleich vorgenommen werden – ganz erhebliche Ähnlichkeiten. Über das bloß Zufällige oder Akzidentielle hinaus scheinen mir für uns heute folgende Punkte bedeutsam:
-Luther wie Fox wollten keine neue Gemeinde oder Kirche gründen. Luther sah sich lebenslang als rechtschaffener Katholik, und Fox behauptete, lediglich den Urzustand der ersten Christen wiederhergestellt zu haben.
-Luther und Fox waren unbeirrbar von ihren Meinungen überzeugt und haben dafür Bewunderung wie Verfolgung und Verachtung in Kauf genommen. Mit Max Weber kann man sie als „religiöse Virtuosen“ bezeichnen.
-Beide Personen waren Erfahrungsmenschen, die ihre Zeit nicht nur in der Bücherstube verbrachten. Sie kannten die schmerzhaften Versuchungen des Lebens, die Höllen der Melancholie und hatten ein Gespür für die Ungerechtigkeiten ihrer Zeit. Deshalb waren sie prädestiniert, ihre Mitmenschen anzusprechen und ihnen Trost zu geben, oder, wie Quäker es ausdrücken würden, sie konnten „zu ihrem Zustand sprechen“. Beide Persönlichkeiten waren große Seelsorger.
-Luther wie Fox wurden in Umbruchs-, in Krisenzeiten hineingeboren. Freilich haben sie die Krisen ihrer Zeit perpetuiert und die gesellschaftlichen Umbrüche vorangetrieben: Nach Luther war die einheitliche Christenheit in Deutschland Geschichte, und nach Fox war das Quäkertum als stärkste der Dissentergruppierungen mehr oder weniger gleichberechtigt und gleichbepflichtigt neben die anglikanische Staatskirche getreten.
-Beide Personen haben auch polarisiert und die Zeitgenossen schieden sich an ihnen: entweder war man für oder gegen Luther, bzw. Fox, etwas Drittes gab es nicht.
Nun soll aber nicht verschwiegen werden, dass es bedeutsame Unterschiede gibt. Diese Unterschiede bezeichne ich als bedeutsam, weil sie nicht nur Gegensätze von Luther und Fox, sondern bereits Gegensätze von Luthertum und Quäkertum beinhalten, freilich noch in Rohfassung und noch nicht so ausgereift, wie es später der Fall sein sollte:
Luther sah sich als Gelehrter und wurde auch als solcher wahrgenommen. Er hatte eine, für die damalige Zeit, „wissenschaftliche“ Ausbildung erhalten, war polyglott, belesen und durchaus ein Intellektueller, freilich ein mitunter polternder und wenig differenzierender.
Fox hingegen war Autodidakt und von seinem Wesen her antiintellektuell eingestellt. Ob er sich Latein selbst beigebracht hatte, ist bis heute umstritten. Den größten Teil seines Lebens saß er im Gefängnis oder verbrachte er auf Wanderschaft – sein beträchtliches Schrifttum entstand ad hoc, en passant und nicht in der Bücherstube.
Luther waren Visionen und Prophezeiungen letztlich ein Gräuel; Fox hatte zeitlebens immer wieder Visionen, Gesichte und Auditionen. Luther versuchte, diese Elemente aus dem Religiösen herauszudrängen, Fox errichtete sein gesamtes Gemeinde- und Gottesdienstverständnis auf der direkten Geistrede des Einzelnen. Wobei man aber nicht vergessen sollte, dass auch für Fox die Bibel die Bestätigung, nicht aber die Quelle göttlicher Erfahrung sein musste.
Man könnte die Liste fortsetzen. Zum Verhältnis der beiden hat die schwedische Schriftstellerin Emilia Fogelklou-Norlind (1878-1972) 1933 noch heute Gültiges formuliert, mit dem das Thema „Vergleich“ abgeschlossen werden soll: Fogelklou-Norlind nahm ihren Vergleich anhand der Freiheit vor, den beide Personen in das Leben, bzw. in das Denken oder in den Glauben der Anhänger von Luther bzw. Fox gebracht hatte und schließt: „Wir Menschen heute scheinen an einen Abgrund angekommen zu sein. Wir können weder den Glauben eines Luther noch den eines Fox einfach annehmen. Glaube und Werk müssen uns selber geoffenbart werden. Aber diese beiden Propheten mögen als Vorbilder vor uns stehen, denn ihnen erstrahlte die Wirklichkeit Gottes durch alle Probleme des Individuums und der Gesellschaft hindurch und regte an zu neuem Glauben und neuverstandener Gemeinschaft“.ii


Was wussten die englischen Quäker von Martin Luther?
Was genau die ersten Quäker von Martin Luther kannten, ist bislang noch nicht untersucht worden. Zumindest kann man zweierlei sagen: erstens, dass sie (theoretisch) wohl viel hätten kennen können, zweitens, dass sie (in Wirklichkeit) wohl recht wenig kannten.
Zum Ersten: unter der anglikanischen Staatskirche waren die Schriften Luthers nicht verboten, und in den verschiedenen Dissidentergruppen freilich erst recht nicht. Jeder und jede, der des Lesens mächtig war, konnte sich über Londoner Buchagenten die Schriften des Reformators bestellen. Ob es sich um „A treatise touching the libertie of a Christian“ handelt, um „Martin Luther’s divine discourses at his table“, um „A commentary upon the Epistle of Paul the Apostle, to the Galatians“: Luthers Ideen waren in England zugänglich. Da nur wenige Quäker Latein beherrschten, standen ihnen diese englischen Übersetzungen zur Verfügung.
Sie werden aber – und hier kommt der zweite Punkt – nur in den seltensten Fällen diese Übersetzungen durchgearbeitet haben. Zunächst muss man sich vor Augen führen, dass das Quäkertum eine antiintellektuelle Bewegung gewesen war, der – zum Entsetzen der gelehrten Christenheit – Gelehrsamkeit, Buchbesitz, ja selbst die Universität mit ihrer ganzen Scholastik und Philosophie wenig oder gar nichts bedeutete. In den überwiegenden Texten der ersten Quäker wird nur ein Buch wieder und wieder zitiert, die Bibel, dann gelegentlich Kirchenväter, und hin und wieder andere Quäkerautoren. Luther, Calvin, Zwingli etc. sind zwar namentlich bekannt, aber direkte Zitate aus ihren Werken sind die Ausnahme. Im Folgenden sollen diese Ausnahmen etwas näher betrachtet werden, denn sie sind ja die einzige Quelle, etwas über das Lutherbild der ersten Quäker zu erfahren, wenn man sich nicht in allgemeinen Spekulationen ergehen möchte.
Bevor damit begonnen wird, sollte noch ein anderer Theologe in Erinnerung gerufen werden, der sich viel besser als Identifikationsfigur für die englischen aber auch deutschen Quäker geeignet hätte: Andreas Bodenstein, worauf allein Roland Bainton (1894-1984) hingewiesen hat. Bainton, ein englischer Theologe, erhielt von der Universität Marburg die Doktorwürde und war für 42 Jahre Professor für Kirchengeschichte an der Yale University. Bainton hatte nach dem Ersten Weltkrieg auch für die Quäker gearbeitet und sich ihnen als überzeugter Pazifist angeschlossen. In seinem Klassiker „Here I stand“ – die bis heute beste Lutherbiographie – sah er insbesondere in Andreas Bodensteins (Karlstadts) Position zum Priestertum eine besondere Nähe zum Quäkertum.iii Bodenstein hatte wie Luther das allgemeine Priestertum ausgerufen, doch ging er noch einen Schritt weiter, indem er die Abschaffung des bezahlten Priesteramts forderte – und hierauf legten ja die Quäker besonderen Wert. Bodenstein legte bekanntlich seinen Prälatenrock nach 1522 ab und kleidete sich demonstrativ als Bauer, obwohl er gar keiner war. Auch seinen Doktortitel legte er ab und ließ sich Bruder Andreas nennen – diese Ähnlichkeiten mit dem Duzen der Quäker und deren Ablehnung akademischer Titel hätte ihn zur deutschen Identifikationsfigur des englischen Quäkertums prädestiniert – doch es ist davon auszugehen, dass die Quäker von Bodenstein/Karlstadt keine Kenntnis hatten. Eine Ausnahme ist allein Robert Barclay, der in seiner Schrift „An apology for the true Christian divinity“ kritisierte, wie Bodenstein, da er sich nicht Luthers Ansichten unterwarf, verbannt wurde und als dann ein Brief mit „ein Mann, aus Gewissensgründen von Martin Luther verfolgt“ dieser zu Tränen gerührt sein konnte.iv Auf die inhaltlichen Positionen Bodensteins geht Barclay nicht ein, er wird sie nicht gekannt haben, und falls doch, dann durch die Perspektive lutherischer Quellen.
Insofern versuchte auch William Penn hinsichtlich des gerade erwähnten Punkts des Duzens, Martin Luther als moralischen Kritiker anzuführen. In seinem Klassiker „Ohne Kreuz keine Krone“, der ja weit über das Quäkertum hinaus gelesen wurde und auch in einer deutschen Übersetzung vorlag, führte Penn dazu aus: „Luther war so weit entfernt, unsere einfache Sprechart zu tadeln, dass er vielmehr in einem seiner Werke, Ludus (das Spiel), betitelt, über den Gebrauch, einzelne Personen in der Mehrzahl anzureden, als eine unschickliche und lächerliche Sache sich lustig macht, wo er nämlich sagt: Magister! vos estis iratus; ‚Magister! Ihr seid unwillig’; welches im Lateinischen ebenso abgeschmackt herauskommt, als es in jeder anderen Sprache lauten würde, wenn man sagte: ‚Meine Herren! Du bist unwillig’“.v Dieses Zitat, wenn es tatsächlich von Luther sein sollte, ist sicherlich eine Kritik ehrgeiziger Studenten gewesen, aber keinesfalls ein allgemeiner Rat zum Duzen. Luther hatte mit Bischöfen, Reichsfürsten und Kaisern korrespondiert und gesprochen, aber er hat diese nicht geduzt und hätte solches auch nicht gutgeheißen.
Was also wussten die englischen Quäker von Martin Luther? George Fox, das sei vorausgeschickt, erwähnte Luther in seinem Journal (Tagebuch) mit keinem Wort, allerdings auch nicht Calvin, John Wycliff oder William Tyndale, den „englischen Luther“. Auch in seinem Buchbestand fehlen die Werke Luthers.vi Ansonsten äußerten sich noch James Nayler, Isaac Pennington und Robert Barclay zu Luther. James Nayler, ein radikaler Quäker der ersten Stunde, dürfte wohl der allererste überhaupt gewesen sein, der in seinem Traktat „Vindication of Truth“ schon im Jahre 1656 Luther zitierte. Er (Nayler) befand sich damals in einer Auseinandersetzung mit Thomas Higgensons „A testimony to the true Jesus and the faith of him“, die ebenfalls 1656 erschienen war und worin sich dieser wiederum gegen Naylors „Love to the Lost“ gewendet hatte. Higgenson soll nun angeblich den biblischen Abraham als exemplarischen Heiligen herausgestellt haben, der ohne Sünde gelebt habe. Dabei berief sich Higgenson laut Naylor auf Luther, ohne zu klären, ob berechtigter Weise oder nicht. Er führt dazu umschweifig aus: „And as thou (Higgenson) begins with a lie, so thou ends, saying that I say, ‘that all the works and measures performed by the creature in obedience to the light within, do but all complete the one work of the creature redemption.’ And when thou hast told this falsehood, thou sets down a story of Luther, wherein he divides Abraham and his righteousness as far asunder as between heaven and earth. So to answer thee and thy story, I shall produce one plain Scripture from James 2 from the 14th to the end of the chapter. Was not thou even now telling of being made righteousness into thyself? and now brings a story to divide Abraham's righteousness as far from him as heaven from earth, and much such staggering thou makest, but the end of all is to keep righteousness out of the door, that thy master may have liberty within.vii
Kurz darauf schrieb Isaac Pennington in „An answer to that common objection against the Quakers” über die Protestanten. 1660 war es in England und Irland zu heftigen Verfolgungen gegen die Quäker gekommen, die zu Hunderten starben und zu Tausenden eingekerkert wurden. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass man nach „Bundesgenossen“ in der Bibel und in der Geschichte suchte – der Typus der Quäkermärtyrers war geboren, dem später Joseph Besse in der Zeugensammlung „A collection of the sufferings of the people called Quakers“ ein literarisches Denkmal setzen sollte. Pennington bezeichnete die Lutheraner als „blessed martyrs“ und meinte, dass die Quäker „agreeing with them in their testimony in several things, as against deriving of a ministry from Rome (which Luther wrote against, and John Huss prophesied of another ministry to arise), and against maintaining the gospel ministry by tithes, or any other way of forced maintenance, which (till Popery grew very strong and powerful) was known to have been free; and against swearing, &c..viii Man sieht sich in der direkten Nachfolge der Protestanten: do we suffer in this our day, even as they did in their day, from the same spirit that persecuted them; which, though it hath much changed its form and way of appearance, yet still retaineth the same nature.ix Ob die Lutheraner einst so friedfertige Märtyrer gewesen sind, wie sie Pennington darstellt, sei ebenso dahingestellt wie angenommene Übereinstimmungen in der Lehre. Für Pennington war entscheidend, dass ein gewaltfreier Widerstand gegen klerikalen Machtmissbrauch möglich ist und dass die Quäker hier nicht alleine stehen.
Zuletzt ist noch ein Blick in die „Apologia“ zu werfen. Die Apologie ist die erste systematische Theologie der Quäker aus der Feder eines ihrer Hauptvertreter: Robert Barclay. Robert Barclay wurde 1648 in Gordonstown (Gordonstoun, Schottland) geboren und als Calvinist erzogen. Am berühmten Schottischen Kolleg studierte er in Paris Theologie und gehörte auch selbst bald zu den Lehrenden. 1666 schloss er sich überraschend den Quäkern an, nachdem er in einer ihrer Andachten gespürt haben wollte, wie in ihm das Böse schwach und das Gute mächtig wurde. Nach seiner Rückkehr nach Nordschottland lebte er auf dem väterlichen Landsitz Ury, wo er 1690 verstarb. Ähnlich wie William Penn gehörte er zu den gebildeten und wohlhabenden Quäkern. 1677 war Barclay zusammen mit Penn und George Fox nach Holland und Deutschland gereist. Dort war er in näheren Kontakt mit der Pfalzgräfin Elisabeth, der Äbtissin von Herford, getreten, die den Quäkern das Halten von Andachten in ihrer Abtei gestattete und sich bei dem König von England für ihre Duldung einsetzte.
Barclays „Catechism and Confession of Faith“ erschien 1673 und zählt bis heute zu den wichtigsten katechetischen Schriften der Quäker. Barclay setzte sich darin für eine Hierarchie (Gospel Order) unter den Quäkern ein, um sie von anderen egalitären Gruppierungen, wie den Rantern oder Familisten, abzugrenzen. Sein Hauptwerk, die bereits genannte „Theologiae Vere Christianae Apologia“, stammte aus dem Jahre 1676. Zwei Jahre darauf übersetzte er sie ins Englische, und bis heute wurde sie in über sechzig Editionen gedruckt. Sie ist die wichtigste theologische Schrift des Quäkertums, in ihr findet man eine Behandlung aller großen Fragen der Theologie, nicht nur die des 17. Jahrhunderts. Für Generationen machte diese Schrift das Quäkertum gegenüber den Kirchen verständlich, da Barclay sich hier deren Sprache bediente. In der These 15 der Apologia findet sich erstmals eine systematische Abhandlung zentraler Anliegen der Quäker, wie dem des Friedenszeugnisses, der Integrität, der Einfachheit, der Gleichheit und der Gemeinschaft.
Luther erscheint in der Apologie bereits zu Beginn, wenn Barclay über „Immediate Revelation“ schreibt. Immerhin, Barclay zitiert zwei Mal aus Luthers Werken, freilich Passagen, die den Quäkern entgegen kommen, nämlich, dass man den Schriftsinn nur mit Hilfe des Heiligen Geistes verstehen könnte.x Diese Interpretation Luthers als eine Art früher deutscher Quäker ist aber äußerst problematisch, wie noch zu sehen sein wird.
Interessant ist eine Stelle aus der Apologie zum Predigtdienst, der ja die Quäker besonders beschäftigte, da er den Mittelpunkt ihres Gottesdienstes (Andacht) ausmacht. Hierzu merkt Barclay an, dass es ein Hauptverdienst von Luther gewesen sei, die absolute Gewalt des Priesters und sein Stellvertretertum in Frage zu stellen, und dagegenzusetzen, dass „every good Christian (not only men, but even women also) is a preacher.“xi Das Zitat ist von Barclay durch Anführungsstriche hervorgehoben, aber eine genaue Quelle gibt er nicht an. Barclay gilt nun in der Literatur als sorgfältig arbeitender Theologe – doch freilich haben bislang die wenigsten Leser seine Zitate auch im Original überprüft. Ob nun Barclay das Zitat bewusst falsch setzte, oder ob er von dritter Seite unrichtig informiert wurde, kann nachträglich nicht mehr mit Sicherheit entschieden werden. Tatsache ist jedoch, dass die Position Luthers zum Predigtamt nicht auf einen Satz reduziert werden kann, wie es Barclay tut. Luther hat sich an verschiedener Stelle immer wieder einmal zum Predigtamt geäußert, er unterscheidet zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, er differenziert zwischen Normalfällen und Ausnahmesituationen, und er kennt nicht nur Predigten, sondern Propezeihungen, Gemeindeansprachen, spontane, vorbereitete, öffentliche und private Predigten. Für Amtspredigten hält Luther 1539 fest: „Was ists aber, das in diesem stück der heilige Geist ausgenommen hat Weiber, Kinder und untüchtige Leute, sondern allein tüchtige mans Personen hiezu erwelet (ausgenomen die not), wie man das lieset in S. Pauli Episteln hin und wider, das ein Bisschoff sol lerhafftig, from und eines Weibes man sein, Und .1. Cor. 14.: ‚Weib sol nicht leren im Volck’. Summa, es sol ein geschickter, auserwelter man sein, dahin Kinder, Weiber und ander Personen nicht tüchtig, ob sie wol tüchtig sind, Gottes wort zu hören“ etc.xii Luther vertritt also genau die entgegengesetzte Position, als wie es Barclay behauptet. Barclay seinerseits möchte Luther für das weibliche Predigtamt einspannen.
Es ist bemerkenswert, dass in der Auseinandersetzung mit Barclay, die ja in die Hochphase der Antiquakeriana fiel, derartige Unstimmigkeiten gar nicht weiter auffielen, denn die meisten lutherischen „Streittheologen“, wie sie sich stolz nannten, machten sich offensichtlich kaum die Mühe, die Quellen ihrer Gegner näher zu überprüfen, da von ihnen ohnehin angenommen wurde, dass sie falsch seien müssten.
Dass übrigens diese Position Luthers von 1539 frühzeitig feststand, zeigt ein Blick in eine weitere Predigt Luthers knapp zwanzig Jahre zuvor: „Seitemal wir nun allen gewalt haben zu predigen, die do Christn sein, was wil den hie werden, denn die weyber werden auch predigen wollen. Neyn, sant Paulus verbeut das, wenn sich ein weyb hervor wolt thun in versamlung der menner tzu predigen, und spricht, sie sollen iren mennern untertanig sein“.xiii Ohne es hier weiter ausführen zu können: Luther ist sicherlich nicht der Urvater der predigenden Frauen bei den Quäkern.
Da die frühen Quäker verstärkt in Norddeutschland missionierten, kam es hier zu einem Aufeinandertreffen von Luthertum und Quäkertum. Freilich befanden sich beide Bewegungen in einem völlig anderem Zustand: das Quäkertum war eine junge, optimistische Bewegung, das Luthertum hatte gerade den Dreißigjährigen Krieg überstanden und befand sich in den Jahren nach dem Westfälischen Friedensschluss ganz im Fahrwasser der Konfessionalisierung. Feste Formen, ob in Liturgie, in der Alltagskultur oder in den Institutionen bildeten sich heraus, die den eher „formlosen“ bzw. undogmatischen Quäkern diametral entgegenstanden. Schon vor dem ersten tatsächlichen Zusammentreffen, zu denen es in der Praxis ja kaum kam, stand für die lutherischen Gelehrten fest, dass die Schwärmer, die Täufer, ja der Teufel selbst auferstanden sei und bekämpft werden müsste. In diesem Kampf war Gewalt, legitimiert durch die heute noch bestehende Confessio Augustana (Art. 5: Verdammung derjenigen, die den Geist ohne die Schrift erlangen wollen) und (Art. 16: Verdammung der Kriegsdienstverweigerer) selbstverständlich mit eingeschlossen. Es gibt zahlreiche Beispiele von Gewaltexzessen, die die pazifistischen Quäker fein säuberlich niederlegten, da unter ihnen gewissermaßen derjenige die höchste Ehre genoss, der die härtesten Verfolgungen überstanden hatte.xiv Das hatte sogar zur Folge, dass Gewaltexzesse geradezu provoziert wurden, um sich im Selbstbild einer um Christi Zeugnis willen verfolgten Gemeinschaft zu bestätigen.
Es lässt sich zeigen, dass Positionen wie die von Pennington, die also das Luthertum als toleranten, pazifistischen (!) Vorläufer des Quäkertums betrachten, von den deutschen Gemeinden strategisch eingesetzt wurden, und vielleicht auch tatsächlich geglaubt wurden. In Friedrichstadt beispielsweise wurden immer wieder zugereiste und konvertierte Quäker auf Anweisung des Herzogs ausgewiesen. In einem Schreiben an diesen beriefen sie sich ausgerechnet auf Martin Luther, „denn sein Zeugnis war gegen den Gewissenszwang“.xv Ob freilich nun solches Berufen auf Luther aus der echten Überzeugung geschah, dieser sei der Urvater der Gewissensfreiheit, oder ob nicht viel eher die Quäker sich aus strategischen Gründen ein Lutherbild zurechtlegten, dass den tatsächlichen Gegebenheiten nicht stand hält, kann man nicht mehr entscheiden. Fest steht jedoch, dass Luther sich sicher nicht für die Gewissensfreiheit der Quäker eingesetzt hätte, sondern vielmehr gegenüber dieser Gruppe, wie auch für die „Schwärmer“ oder Täufer, der Todesstrafe das Wort geredet hätte.
Daher musste die ablehnende Reaktion nicht nur der Geistlichkeit, sondern auch der deutschen Bevölkerung bei den Quäkern einen Ernüchterungsprozess verursacht haben. Ursprünglich ging man tatsächlich davon aus, man müsste den Deutschen nur vom Inneren Licht erzählen, und es würde zu Massenbekehrungen kommen. Die Naivität ging so weit, dass einige der ersten enthusiastischen Prediger nicht einmal die Landessprache erlernten und es überhaupt keine Koordination oder Lenkung der Missionsreisen gab, was dazu beitrug, dass die deutschen Quäkergemeinden zu keiner Zeit wirklich prosperierten.


Quietismus
Als dann den Quäkern in der zweiten Generation klar wurde, dass sich ohne eine gewisse Professionalisierung und Institutionalisierung nicht überdauern ließ, befand man sich bereits in der Phase des Quietismus. Im 18. Jahrhundert betrachtete man Quietismus als eine introspektive Haltung und Konzentration auf sein Seelenleben, heute wird der Begriff für Erstarrung in Formalismen und fehlende Mission nach Außen gebraucht. Fest steht, dass die Kontakte zwischen Quäkern und Lutheranern gegen Null gingen: in Deutschland allein aufgrund der Tatsache, dass es bis in die 1790er Jahre keine Quäkergemeinden gab, und in England und den USA aufgrund strenger Regularien, die es Quäkern untersagten, die Gottesdienste der Lutheraner zu besuchen, ihre Kinder bei Lutheranern zur Lehre zu geben oder lutherische Bücher zu lesen. Den Höhepunkt aber auch Schlusspunkt dieses Abschottungswahns bildete die Regelung, dass Quäker nur untereinander heiraten durften. Die erscheint nun als nichts besonderes, sondern galt in der Frühen Neuzeit für viele christliche Gemeinschaften – doch bei den zahlenmäßig verschwindenden Quäkern führte es zu Ehelosigkeit, heimlichen Hochzeiten und selbst vor Inzucht (Cousinenehe/Ehe ersten Grades) wurde nicht zurückgeschreckt.


Evangelikalismus
Der Quietismus wurde durch mehre Wellen religiöser Erweckung unterbrochen und abgelöst. Das evangelikale Quäkertum tritt im Laufe des 19. Jahrhunderts auf den Plan. Innerhalb dieser Richtung des Quäkertums wird wieder Wert auf Mission gelegt; insbesondere die Quäkergemeinden Afrikas sind ein Resultat dieser Richtung. Dieses evangelikale Quäkertum sieht sich, wie aber alle anderen Richtungen des Quäkertums auch, in der legitimen Nachfolge von George Fox. Für Evangelikale besteht „wahres” Quäkertum eben nicht darin, eine starre Tradition zu formulieren und heute noch Andachten abzuhalten wie vor 350 Jahren – was am allerwenigsten George Fox gewollt hätte. Vielmehr sei das Entscheidende das Hören auf den Willen Gottes in der Zeit, und dieser habe den Quäkern nun zum Ausdruck gebracht, es sei an der Zeit für ein neues Sakramentsverständnis, für Kirchemusik und für bestellte Pastoren. Es fällt schwer, einen quäkerischen Gottesdienst der evangelikalen Richtung von einem Gottesdienst der Lutheraner zu unterscheiden. Und in der Tat kam es nun zu ökumenischen Annäherungen, die Quäker und Lutheraner in den USA bei karitativen, aber auch infrastrukturellen Fragen zusammenarbeiten ließ. Das war der Fall bei den gemeinsam durchgeführten Wiederaufbauprogrammen nach dem Sezessionskrieg und während der Hilfstätigkeit in und nach beiden Weltkriegen. Beide Richtungen näherten sich mehr und mehr an, bzw. das Quäkertum wurde dem Luthertum immer ähnlicher, während man Umgekehrtes ja nicht behaupten kann.
Nur durch diese Entwicklungen, deren Erforschung im Einzelnen größtenteils noch aussteht, ist der „Luthertourismus“ der angloamerikanischen Quäker zu erklären. Die Reiselust der Engländer im 19. Jahrhundert war bekanntlich sprichwörtlich: sowohl die Wartburg als auch die Franckeschen Stiftungen standen auf der Liste der Sehenswürdigkeiten ganz oben. Stephen Grellet, ein bedeutender US-amerikanischer Quäker evangelikaler Couleur, besuchte 1832 nicht allein Berlin, sondern auch Wittenberg, Halle, Weimar sowie Leipzig und schreibt ausführlich darüber.xvi Elisabeth Fry, die wichtigste Missionarin des Quäkertums im 19. Jahrhundert, erlebte Wittenberg als einen Höhepunkt ihrer ausgedehnten Deutschlandreise. Damals war es noch möglich, sich auf den Stuhl zu setzen, auf dem Luther einst gesessen haben soll. Derartige direkte Kontakte ermöglichten eine Authentizität und ein Sich-Verbunden-Fühlen mit Luther, das in dieser Form freilich für die Masse der heutigen Touristen nicht mehr erlebbar ist. Wittenberg beeindruckte Fry derart, dass sie sogar plante, ihre Tour nach den Luther-Sehenswürdigkeiten auszurichten.xvii Ob und was man vom Luthertum verstanden hatte, ist aus diesen Berichten kaum zu entnehmen. Die Quäker des 19. Jahrhunderts, die ja längst nicht mehr zu Verfolgten zählten, sondern die ganz im Gegenteil auch im Ausland als Vertreter einer Weltmacht wahrgenommen wurden, die den halben Globus versklavt hat, hatten längst ihren Frieden mit Luther und dem Luthertum gemacht. Schon aus bloßer Höflichkeit hätten Fry oder Grellet, die ja als weltgewandte Diplomaten moralisch hehrer Ziele die Welt umreisten, ohne sich um den eigenen Lebensunterhalt sorgen zu müssen, niemals eine ernsthafte Kritik an Luther gewagt.
So wurde zu dieser Zeit von Seiten der Quäker auch betont, dass Übersetzungen der Schriften Luthers einen Einfluss auf das Frömmigkeitsleben Englands gehabt hätten – was vermutlich auch vorher niemand in Abrede gestellt hat.xviii Innerhalb des evangelikalen Quäkertums wurde auch der bis heute direkte Vergleich von Fox und Luther vorgelegt, nämlich von Cyrus Harvey’ „An historical parallel. Or, George Fox and Martin Luther as reformers“ (Baxter Springs 1878).
Höhepunkt freilich war die Apotheose Luthers als biblische Heiligengestalt. Ein gewisser Dougan Clark stellte Luther – aber auch George Fox – neben Moses, Silas und Paulus: „Such an one was Moses, whose face ‚shone’ with the reflected radiance of Jehovah’s glory; such were Paul and Silas when the unwilling demon was compelled to acknowledge ‚these are the servants of the Most High God;’ such was Martin Luther when he exclaimed with holy boldness, ‚I would go to Worms though there were as many devils as tiles on the houses;’ such a man was George Fox when he exclaimed, ‚I am sanctified, for I am in the paradise of God.“xix
Dougan Clark ist auch heute wenig bekannt. Wenn man das evangelikale Quäkertum verstehen möchte, muss man sich mit dieser Person, seinen Positionen und Schriften auseinandersetzen. Clark wurde 1828 in Randolph County (North Carolina) als Sohn der einflussreichen Quäker Dougan Sen. und Asenath (geb. Hunt) Clark geboren. Er studierte ab 1855 an der University of Maryland Medizin und graduierte 1861 an der University of Pennsylvania. Ab 1866 war er „Professor“ (Lehrkraft) für Altphilologie am Earlham College und unterrichtete Griechisch und Hebräisch, ab 1869 praktizierte er als Allgemeinmediziner in Richmond (Indiana). 1884 richtete er am Earlham College das Fach Bibelkunde ein und unterrichtete Latein, Griechisch sowie Theologie. 1888 wurde er Professor für Theologie und Bibelkunde. Im Laufe der Jahre näherte er sich immer mehr der evangelikalen Richtung des Quäkertums an und machte Earlham College zu dem was es heute (unter anderem) ist: die wichtigste Ausbildungsstätte für Quäkermissionare und Quäkerpastoren.
Clark war maßgeblich beeinflusst von der Holiness-Bewegung. Sein Werk „The Offices of the Holy Spirit” wurde seit 1878 mehrfach aufgelegt und fehlte in keiner Missionsstation, von Japan bis Mexiko. Ab 1883 gab er das Bekehrungsblatt „Gospel Expositor“ heraus. 1893 war es soweit: auf dem oder kurz nach dem Ohio Yearly Meeting (einem jährlichen Treffen der Quäker Ohios) unterzog er sich der Wassertaufe, die ihm ja selbst als geborenen Quäker erspart geblieben war. Dieses Ereignis verursachte unter den Quäkern Auseinandersetzungen und tiefgehende Spannungen, die letztlich bis heute bestehen. Clark selbst verstarb nur drei Jahre darauf 1896 an einer Lungeentzündung, sein Werk wurde jedoch fortgeführt und mündete in das, was heute „Evangelical Friends International“ ist, eine der drei großen Hauptrichtungen der Quäker in den USA (neben Friends General Conference und Friends United Meeting).
Im Kontext des evangelikalen Quäkertums stellte sich die Gewissensfreiheit, die ja der eigentliche Kern der Quäkerlehre, die nie das Heil durch Zeremonien oder Liturgien vertrat, neu. David Duncan (1839-1871), ein Quäker aus Manchester, rief bei seinen Glaubensgenossen in Erinnerung, dass die frühen Reformatoren sich für die Gewissensfreiheit in göttlichen Angelegenheiten stark gemacht hätten.xx Während aber Huss, Luther und Calvin die „Supremacy of any eccleiastical authority in persons“ durchweg ablehnen würden (was so sicher überspitzt formuliert ist), hätten sie unglücklicher Weise die Autorität auf ein Buch, die Bibel, übertragen und damit dem Biblizismus, gar die Bibliolatrie, befördert, der dann dem Protestantismus über Jahrhunderte geschadet hätte. Freilich erlitt Duncan selbst das Schicksal der Reformatoren, wurde er doch schließlich wegen seiner liberalen Einstellung und seiner Ablehnung der Bibel als höchste Autorität angegriffen und schließlich vom Hardshaw East Monthly Meeting ausgeschlossen.xxi Das zeigt, wie stark das englische Quäkertum inzwischen vom Evangelikalismus ergriffen war und rigoros gegen vermeintliche oder tatsächliche Abweichler vorging. Doch diese (evangelikale) Richtung hatte schon längst ihren Zenit überschritten, denn langsam aber kontinuierlich machte sich eine neue Richtung bemerkbar: das liberale Quäkertum. Seine Geburtshelfer waren der Engländer John Wilhelm Rowntree (1868-1905) und der Amerikaner Rufus Jones (1863-1948).xxii Wäre Duncan nur eine Generation später auf die Welt gekommen, wäre er unter Braithwaite und Jones als Vertreter des „echten“, nämlich des liberalen, Quäkertums hoch geschätzt worden.


Liberales Quäkertum
Das liberale Quäkertum orientiert sich wieder stärker an die ersten Quäker, aber in ihrer Erscheinungsform nach 1688 (also nach dem Act of Toleration). Bestandteile waren und sind: Spirituelle Erfahrung ist wichtiger als die Bibel, die als historisches Buch verstanden wird, liberale Ausrichtung in Politik und Sexualmoral, sowie starker Drang, in der Welt zu wirken, allein, mit der Quäkergemeinschaft oder in ökumenischen Zusammenhängen.xxiii
Mit dem liberalen Quäkertum komme ich in das 20. Jahrhundert und auch wieder nach Deutschland, denn gerade hier fand ein intensiver Austausch zwischen liberalem Quäkertum und lutherischer Theologie und Lebenswelt statt. Bis heute ist in der wissenschaftlichen Wahrnehmung wenig bekannt, dass eine ganze Reihe mehr oder weniger bedeutender Theologen sich ganz oder zeitweise den deutschen Quäkern angeschlossen hatte.xxiv Es waren fast immer Lutheraner, und zwar nicht zufällig Lutheraner, sondern Theologen, die ihr Fach unter konfessionellen Vorzeichen studiert hatten:
-Hermann Mulert (1879-1950), Professor für Systematische Theologie.
-Rudolf Schlosser (1880-1944), praktischer Theologe, zeitweise Mitarbeiter von Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) in Bethel.
-Margarete Geyer (1885-1952), eine der ersten weiblichen Theologinnen, studierte u.a. in Göttingen, Leipzig und Halle.
-Heinz Kappes (1893-1988), Mitbegründer der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.
-Gertrud von Petzold (1876-1952): erste Frau, die in Deutschland in einer Kirche öffentlich predigte (1911 in Bremen).
-Ruth Elsner von Gronow (1887-1972): Theologin und Quäkerin, die über viele Jahre biblische Seminare leitete und als Quäkerin das Neue Testament übersetzte (bis heute nicht veröffentlicht).
und Heinz Röhr (1931-2005), Professor für Religionswissenschaft an der Frankfurter Goethe-Universität.xxv

Diese Personen haben zumindest gemeinsam, dass sie sich alle im Laufe ihres Lebens mit Martin Luther auseinandergesetzt haben, wissenschaftlich zumindest dann, als diese Personen ihr Theologiestudium durchliefen. Von daher dürfen wir auch vermuten, dass diese Personen Luther oder dem Luthertum zumindest so positiv gegenüber eingestellt waren, dass sie in der evangelischen Landeskirche ihren Berufs- und Lebensmittelpunkt sehen konnten. Und ein Drittes: alle diese Personen haben sich aus der Landeskirche in soweit wieder gelöst, dass sie bereit waren, mit dem Quäkertum einer Glaubensgemeinschaft beizutreten, die damals noch diametral andere als Lutherische Positionen vertrat, man denke nur an die Eidfragexxvi oder den Pazifismus.
Die genannten Personen wussten sehr genau, was sie hinter sich ließen, wenn sie aus der Evangelischen Landeskirche austraten. Ob sie wussten, in welche Gemeinschaft sie mit dem Quäkertum eintraten, ist weniger sicher. Die Deutsche Jahresversammlung wurde erst 1925 gegründet und befand sich schon ab 1933 in ganz erheblichen Schwierigkeiten. In den wenigen Jahren hatte sich zwar ein persönliches Beziehungsgeflecht der Mitglieder untereinander herausgebildet, aber inhaltliche Fragen, die die für Deutschland neue Religion betrafen, wurden kaum ausdiskutiert. Man darf zudem nicht vergessen, dass es in Deutschland keine Hochschulen oder andersartige Bildungseinrichtungen der Quäker gab – Inhalte mussten und müssen auch heute noch im Selbststudium erworben werden, was zunächst vor allem auch dadurch erschwert war, dass ja die gesamte moderne Quäkerliteratur erst einmal in einer fremden Sprache vorlag.
Da sich nach einer „heißen“ Anfangsphase eine pragmatische bürgerliche Fraktion gegen die Sonne anbetende Lebensreformer, politisch fanatische Religiöse Sozialisten, unpolitische Ästheten und weltfremde Mystiker durchsetzte, baute das Quäkertum auf Integration statt auf Konfrontation. Das betraf vor allem das Verhältnis mit anderen Religionsgemeinschaften, wo es zu keinerlei Konflikten kam. Inhaltlich hätte es diese mit dem Luthertum in seiner Form bis 1945 natürlich geben (unterschiedliches Tauf- und Abendmalverständnis, das Problem der Doppelmitgliedschaft, die Frage der Frauenpredigt, u.a.). Dass diese Fragen letztlich nicht geklärt wurden und dass sich das Quäkertum letztlich konsolidierte, war neben dem jahrzehntelangen Schreiber (Vorsitzenden) Hans Albrecht einer integrativen, konzilianten Persönlichkeit zu verdanken: Emil Fuchs.

Emil Fuchs
Kein Quäker – wohl weltweit – hat sich so intensiv wie Emil Fuchs mit Martin Luther wissenschaftlich, aber auch pseudowissenschaftlich auseinandergesetzt. Zu unterschiedlichen Zeiten präsentierte Fuchs seinen Lesern ein ganz unterschiedliches Lutherbild. 1917 erschien „Luthers deutsche Sendung“. Es handelt sich dabei um eine rassistisch untersetzte Deutschtümelei zum Zweck der Kriegspropaganda, wie sie von kirchlicher Seite in jenen Jahren massenweise erschienen – was keinesfalls als Entschuldigung herangezogen werden darf, denn es gab immer auch andere, die ihre Stimme gegen den Krieg erhoben. Emil Fuchs war nicht darunter.
„Luthers deutsche Sendung“ ist nicht etwa um die Doktorarbeit von Fuchs, sondern eine Dankesschrift eigens für die Verleihung der Doktorwürde an seine Lehrer Ferdinand Kattenbusch (1851-1935), dem Begründer der Konfessionskunde, an den Alttestamentler Bernhard Stade (1848-1906) und an Paul Drews (1858-1912), Professor für Praktische Theologie an den Hochschulen in Jena, Gießen und Halle. Die Franzosen werden in der Schrift als elegant, die Engländer als weltgewandt, die Deutschen dagegen als plump und derb charakterisiert – plump und derb eben, wie es Martin Luther gewesen sein soll. Für ihn, den Deutschen an sich, wie für Martin Luther, gelten keine (weltlichen) Gesetze, und schon gar nicht das Völkerrecht, sondern er folgt allein seinem innerem Gesetz, seinem Gewissen.xxvii Mit diesem höherwertigen, inneren Gewissens-Gesetz rechtfertigt Fuchs dann die Angriffskriege gegen Nachbarstaaten wie Belgien (Schlieffen-Plan). Denn: „Der deutsche Staatsmann und der deutsche Feldherr mußten Deutschland retten, ob Belgien auch darüber zugrunde gehen sollte. Sündige immerhin! Wisse aber, daß du nicht sündigen kannst, wenn du glaubst und liebst“xxviii – mit derartigen Lutherzitaten wurden also von Fuchs Angriffskriege gerechtfertigt, die abertausenden Soldaten das Leben kosteten und für Deutschland genau das Gegenteil von dem, was es erwartet hatte, einbrachte. So findet man bei Fuchs genau jene Parolen, die ab 1933 so verhängnisvoll wirken sollten: Er spricht vom Daseinskampf, von deutscher Sendung im Osten und immer wieder von einem starken Führer und seiner Volksgemeinschaft.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Fuchs, der zu diesem Zeitpunkt natürlich noch kein Quäker war, die es in Deutschland 1917 ja noch nicht gab, hatte immerhin gewisse Kenntnisse des Quäkertums. Das hat einen biographischen Hintergrund: Von 1902 bis 1903 war Fuchs Vikar an einer deutschen Gemeinde in Manchester und lernte vermutlich dort Quäker kennen. Für Fuchs sind nun ausgerechnet Quäker wie George Fox, John Woolman und Thomas Ellwood die Vertreter der deutschen Kultur in England (!). Denn: England würde Reformen mit Gewalt durchsetzen, Deutschland hingegen durch Erziehung. Und genau dieses täten die Quäker: Herbeiführung von Reformen auf friedlichem Wege. Dabei zitiert er ein ganz randständiges Beispiel, die Quäkerkleidung bzw. Quäkeruniform (die Ellwood und Fox freilich noch gar nicht kannten, was Fuchs übersieht). Fox diente ihm dabei als Vertreter einer Reformerpädagogik: „Schließlich ist die ganze Lebensreform, die George Fox erstrebte, eine ästhetische Reform“xxix und Fox wird zum Urvater des Dürerbundes, des Wandervogels und der Reformkleidung. Immerhin kannte Fuchs zu diesem Zeitpunkt das Journal (Tagebuch) von George Fox, aus dem er mehrfach zitiert.xxx Es ist vor allem George Fox als Enthusiast, für den sich Fuchs interessiert, und worin er, zu Recht, einen ganz ähnlichen Wesenszug Luthers feststellt. Der entscheidende Unterschied liegt freilich darin, dass Luther in Visionen oder Auditionen, die er ja durchaus aus eigener Erfahrung kannte, keine göttlichen Einwirkungen sehen kann, sondern sie ganz im Gegenteil als Instrumente des Bösen, des Teufels, deutete. Vor allem doch deswegen stand er denjenigen kritisch gegenüber, die man verächtlich „Schwärmer“ nannte.
Wie geht es nun weiter mit Emil Fuchs? 1918 war auch für ihn ein Schock – ein Umdenken setzte ein, Fuchs wird Sozialist, Marxist und auch Quäker. Er verliert 1933 seine Arbeit und widmete sich der Berliner Quäkergemeinde und seinen Forschungsstudien. In der Zeitschrift „Quäker“ erschien von Fuchs im Jahre 1937 ein blasser Vergleich, der die Erlösungskonzepte von Luther und Fox wertneutral gegenüberstellt, ohne für das eine oder andere zu plädieren, nicht einmal in Form rein persönlicher Präferenz.xxxi 1939 verteidigte er sein Bild eines liberalen Luther in einer durchaus scharfen Rezension von Otto von Taubes gerade erschienenen „Wirkungen Luthers“, in dem der Verfasser ein Lutherbild entwirft, dass sich problemlos in die nationalsozialistische Ideologie einfügt, Untertanenpflichten begründet, Zivilcourage verwirft. Fuchs spricht dabei nur am Rande gegen Luther, sondern betont das neue Schriftverständnis Luthers, dessen Radikalität allerdings später durch die Auseinandersetzung mit den Täufern und christlichen Mystikern zurückgenommen wurde.xxxii
Kurz darauf, 1942, unmittelbar vor dem Verbot der Zeitschrift „Der Quäker“ (in der viele Artikel von Fuchs erschienen), wurden sogar Lutherworte zur persönlichen Erbauung abgedruckt, freilich etwas andere, als man sonst zu dieser Zeit in der deutschen Öffentlichkeit hörte. Es sind die Zitate, die Luther als geistigen bzw. geistlichen Vorläufer der quäkerischen Auffassung vom Verhältnis des inneren zum äußeren Wort erscheinen lassen, etwa: „Wenn sie sich auf die Schrift berufen gegen den Herrn Christus, so berufe ich mich auf den Herrn Christus gegen die Schrift“.xxxiii Unmittelbar vor diesen Zitaten wird eine Vorlesung von Emil Fuchs wiedergegeben, und es ist zu vermuten, dass auch die Lutherworte von niemand anders zusammengetragen worden sind als von Emil Fuchs.xxxiv Wie aber erklärt sich diese neue Lutherverehrung der Quäker, die es vorher so nicht gab, und die auch nach 1945 nicht fortgesetzt wurde? Mit Beginn des Krieges waren die deutschen Quäker von ihren angloamerikanischen Glaubensgenossen abgeschnitten und isoliert. In ihrer Not begannen sie sogar, in Andachten wieder das Singen einzuführen und lange Predigten zuzulassen. Zum einen scheinen die sozialen und mentalen Prägungen, die die meisten deutschen Quäker Jahrzehnte erfahren hatten, stärker gewogen haben als die wenigen Jahre Quäkertum. Zum anderen öffnete man sich unter den Drangsalen der Zeit der lutherischen Kirche und wollte anstatt konfessioneller Differenzierung und Eigenständigkeit mehr Solidarität und ökumenische Gemeinschaft.
Es wurde erwähnt, dass Fuchs während des Dritten Reichs eine Vielzahl von Manuskripten verfasste. Aus verschienen Gründen ist bis heute der größte Teil ungedruckt und lagert im Archiv der Deutschen Jahresversammlung. Erst 2006 konnte zumindest eine dieser Manuskripte in einer Edition vorgelegt werden. Sie trägt den etwas merkwürdigen Titel: „George Fox. Seine Botschaft, sein Wesen und sein Leben nach seinen eigenen Denkwürdigkeiten dargestellt“xxxv – ein Titel, den noch Emil Fuchs seiner Schrift gegeben hat. Fuchs, der zwar schon 1917 von „dogmatische(r) Rechthaberei bei Luther“xxxvi sprechen konnte, steigerte sich hier zu „Luthers Irrtum“ und beantwortete die Frage zur Zwei-Reiche-Lehre ganz im Sinne von Fox: „Denn wer an Gott glaubt und seine Stimme und sein Wort, muss glauben, dass er selbst sein Volk recht führen wird, und wir nicht seine Führung zu ergänzen haben durch irgend eine Autorität, die wir uns ausdenken“.xxxvii Eine andere zentrale Frage, die Fuchs als Theologen beschäftigte, war die nach einem direkten Zugang des Menschen zu Gott. Hier stellte Fuchs interessante Vergleiche zwischen George Fox und Martin Luther an, die beide ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hätten, jedoch unterschiedliche gesellschaftliche Konzeptionen daraus entworfen hätten.xxxviii Fuchs selbst konnte beides miteinander vereinen: englisches Quäkertum und lutherischen Protestantismus. Nicht zuletzt ist sein Leben auch ein Zeugnis, wie sehr sich die christlichen Richtungen, die sich zu Zeiten von George Fox noch blutig und unversöhnt gegenüberstanden, inzwischen im Zeichen der Ökumene angenähert und verständigt haben. Fuchs konnte jedoch mit seiner Schlussfolgerung „Luthers Irrtum“ nicht an die Öffentlichkeit der Quäker gelangen, da sein Manuskript zu George Fox erst über fünfzig Jahre später gedruckt wurde.
Nach 1945 kam es nochmals zu entscheidenden Ereignissen im Leben von Emil Fuchs. Nach zwölfjähriger Dauerarbeitslosigkeit kam er praktisch über Nacht zu einem angesehenen theologischen Lehrstuhl. Als Verehrer Stalins hatte sich Fuchs bewusst für ein Leben im „besseren Deutschland“ entschieden. Fuchs lebte und arbeitete nun in Leipzig, und wenn es auch keinen direkten Beweis dafür gibt, darf man durchaus annehmen, dass Fuchs wusste, wer hier im Sommer 1519 auf der Pleißenburg disputiert hatte.xxxix
Verständlicher Weise war für den jetzigen Theologieprofessor die Lehre Martin Luthers ebenso wichtig wie einst für den Quäker im passiven Widerstand. Denn wie wäre es zu erklären, dass sich gleich zwei Beiträge in seiner Festgabe zum 90. Geburtstag mit Martin Luther beschäftigen?xl Es sind Ingetraut Ludolphy, Historikerin zur Theologiegeschichte der Reformationszeit, mit einem Beitrag zum Begriff „potentia absoluta“ und Pfarrer Erdmann Schott zu „Luther als Friedensstifter“, insbesondere zu Confessio Augustana 16: „Von der Polizei (Staatsordnung) und dem weltlichen Regiment“. Bemerkenswert ist, dass in diesen wie auch in anderen Beiträgen der Festschrift natürlich auf Emil Fuchs Bezug genommen wird, der sich ja in seinem Oeuvre inzwischen mehr als zwanzig Mal mit Luther auseinandergesetzt hatte, aber an kaum einer Stelle Fuchs quäkerisches Denken hervorgehoben wird. Ist es die Ignoranz lutherischer Theologen, sich Fuchs gewissermaßen so zurechtzuschustern, bis er theologisch-korrekt verortet werden konnte? Oder hat Fuchs, der ja in der Nachkriegszeit am Gemeindeleben der Quäker zunächst kaum, später gar nicht mehr teilnahm, von seinem Quäkertum selbst nichts mehr wissen wollen? Diese oder andere Fragen können wohl erst beantwortet werden, wenn das Desiderat „Biographie Fuchs“ endlich einmal angegangen wird – hoffentlich von einer Persönlichkeit, die im Luthertum wie im Quäkertum gleichermaßen versiert ist.
Jedenfalls war Fuchs dem Reformator gegenüber weitaus kritischer eingestellt, als es die Festschrift glauben machen möchte. Kurz darauf, 1966, erschien eine Arbeit von Fuchs, die mit dem Titel „deutsche Schicksalsgestalt“ andeutet, dass hier kein grundsätzlicher Bruch zu seinen früheren Arbeiten zu Luther vorliegt. Auf diese geht er ausführlich ein, freilich aber nicht auf sein Erstlingswerk „Luthers deutsche Sendung“, die er seinem sozialistischen Publikum wohlweislich verschweigt und vielmehr um ein Lutherbild im Einklang mit dem historischen Materialismus bemüht ist. Im Gegensatz zu früher unterscheidet er jetzt zwischen einem jungen, sozialrevolutionären und einem alten, obrigkeitsdoktrinären Luther. Er trennt auch zwischen dem Reformator und dem Theologen Luther: Währen der erstere die Seele befreit habe, hätte der zweite der Obrigkeit die Gestaltung der Welt zugeschrieben.xli So meint er: „Zum Unterschied von der Mehrheit der Lutherforscher, die den sozialen Hintergrund und Kontext für die Entwicklung Luthers und die Ausformulierung seines Denkens nur unzulänglich berücksichtigen, hat in besonderer Weise die Rolle Luthers als Wegweiser auch im sozialen Umbruch immer im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit gestanden“xlii – doch hier muss man hinter solchen biographischen Konstruktionen ein Fragezeichen setzen. Fuchs hat sich mit Karl Barths Römerbrief-Auslegungen auseinandergesetzt wie mit dem Lutherbild Kattenbuschs, Holls oder Fricks, aber er hat nicht kirchengeschichtlich gearbeitet, und schon gar nicht historisch-kritisch.


Schluss
Was kann man heute, kurz vor dem halbtausendjährigen Lutherjubiläum zum gegenseitigen Verhältnis beider Gemeinschaften sagen? Zunächst gilt für den deutschen Raum weiterhin das Paradoxon: ohne Luthertum (bzw. evangelische Kirche) kein Quäkertum. Denn: Die ganz überwiegende Zahl der deutschen Quäker stammt aus der evangelischen Landeskirche oder besitzt die Doppelmitgliedschaft. Dann muss man aber auch sagen: das Interesse an Luther und an Fox ist etwa gleich hoch, bzw. niedrig, nämlich äußerst gering. Zum einen kann man das daran ermessen, dass diese Personen in den Publikationen der Deutschen Jahresversammlung heute so gut wie nicht existieren, und wenn doch einmal, dann mit dem Beigeschmack des Folkloristischen, des Überwundenen, des irgendwie Unpassenden. Häufiger hört man die nicht so falsche Aussage: Fox würde heute sicher nicht Mitglied bei den Quäkern sein. Nur bei genauem Hinhören drücken sich aber in dieser Sentenz zwei ganz unterschiedliche Meinungen aus: zum einen plädieren Mitglieder dafür, Fox gewissermaßen in der „Mottenkiste“ zu belassen und das Quäkertum als eine moderne Religionsbewegung zu verstehen, die sich immer wieder neu finden und erfinden muss. Zum anderen drückt die Sentenz eine Kritik am heutigen Quäkertum aus, nämlich in dem Sinne, dass Fox sich heute dem Quäkertum nicht mehr anschließen würde, weil dieses sich vom (echten) Quäkertum entfernt hätten.
Luther wird für die wenigen deutschen Quäker aber weiterhin ein Thema bleiben, wenn sich ein neues Interesse an theologischen Fragen entwickelt. Wie dargestellt, hat sich das Quäkertum in den letzten Jahrhunderten ja immer wieder gewandelt, vom frühen Quäkertum zum Quietismus, zum Evangelikalismus und liberalen Quäkertum. Diese Entwicklung ist lange noch nicht abgeschlossen, und gerade eine sehr kleine Gemeinschaft kann von nur sehr wenigen Personen schnell in ganz neue Richtungen gebracht werden. Die wenigen Theologen unter den deutschen Quäkern waren meinungsbildend und haben dem deutschen Quäkertum erst ein Gesicht gegeben. Sie haben ihm zudem eine gewisse Professionalität verliehen, die die negativen Auswüchse einer reinen Laienbewegung abmilderten. Gleichzeitig waren sie Brückenbauer zu den anderen Konfessionen, nicht ausschließlich nur zum Luthertum. Ohne sie wäre das Quäkertum noch unbekannter als ohnehin, und ohne sie hätten viele Quäker theologische Impulse und Fragen nie erhalten bzw. nicht kennen gelernt.
Wurde in der Vergangenheit das Quäkertum vom Luthertum geprägt, so scheint sich nun das Verhältnis umzukehren. Inzwischen sind selbst viele Lutheraner Pazifisten, basisdemokratische Entscheidungen setzten sich in den Kirchen mehr und mehr durch, Frauen können selbst als Bischöfinnen gestalterisch in der Kirche mitwirken, und auch Teile der Confessio Augustana, die von den Quäkern immer als problematisch gesehen wurde, sollen abgeschafft werden. Die Impulse dazu kamen jedoch nur zum Teil von den Quäkern, sondern sind gesamtgesellschaftliche Veränderungen, die sich auch in anderen Freikirchen feststellen lassen. Das liberale Luthertum ist heute teilweise im Quäkertum angekommen. Auch das kann Morgen schon wieder ganz anders sein, doch heute ergeben sich mehr gemeinsame Ansatzpunkte als in den gesamten letzten 350 Jahren, sich als das zu verstehen, was Lutheraner und Quäker letztlich sind: Teil einer abendländischen, europäischen Christenheit, die gegenwärtig ihren Schwerpunkt in einer internationalem Gesellschaft außerhalb Europas hat.

aus: Freikirchenforschung, 20, 2011, S. 40-60.


i Einführende Literatur: Hartmut Kaelble: Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1999; Hartmut Kaelble, Jürgen Schriewer (Hrsg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2003; Deborah Cohen, Maura O’Connor: Comparison and history. Europe in cross-national perspective, Routledge 2004; Eckart Conze, Ulrich Lappenküper, Guido Müller (Hrsg.): Geschichte der internationalen Beziehungen, Köln 2004; Matthias Middell: Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ, 10, 2000, S. 7-41.
ii Emilia Fogelklou-Norlind: Luther und Fox, in: Der Quäker. Monatshefte der deutschen Freunde, 10, 2, 1933, S. 33-43, hier S. 43.
iii Roland Bainton: Here I stand. A life of Martin Luther, New York 1969 (14. Auflage), S. 201.
iv Robert Barclay: An apology for the true Christian divinity, in: Truth triumphant, Bd.2, Philadelphia 1831, S. 505.
v William Penn: Ohne Kreuz keine Krone, hrsg. von Claus Bernet, Olaf Radicke, Norderstedt 2009, S. 168.
vi John L. Nickalls: George Fox’s library, in: Journal of the Friends Historical Society, 28, 1931, S. 1-21; Henry J. Cadbury: George Fox’s library, in: Journal of the Friends Historical, 29, 1932, S. 63-71 und 30, 1933, S. 9-19.
vii The works of James Nayler (1618-1660), Bd. 3, Glenside 2007, S. 230-231.
viii Pennington: An answer to that common objection against the Quakers, London 1660, S. 131.
ix Ebda., S. 132.
x Robert Barclay, Apologia, Amsterdam 1676, Second Proposition, §II.
xi Ebda., Tenth Proposition, §IX.
xii Von den Konziliis und Kirchen (1539); WA 50, S. 633.
xiii WA 10, 3, S. 171. Sie dazu auch ausführlich: Christine Globig, Frauenordination im Kontext lutherischer Ekklesiologie, Göttingen 1994, S. 28-36.
xiv Joseph Besse: A collection of the sufferings of the people called Quakers, 2 Bdd., London 1753.
xv Ohne Quellenbeleg zitiert nach Sünne Juterczenka: Über Gott und die Welt. Endzeitvisionen, Reformdebatten und die europäische Quäkermission in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2008, S. 98.
xvi Benjamin Seebohm (Hrsg.): Memoirs of the life and Gospel labours of Stephen Grellet, Bd. 2, London 1860, S. 282-293.
xvii Memoir of the life of Elizabeth Fry, Bd. 2, London 1848, S. 355.
xviii Thomas Wight, John Rutty: A history of the rise and progress of the people called Quakers, in Ireland, from the year 1653 to 1700, London 1811, S. 31-32.
xix Dougan Clark: Holy Ghost dispensation, Chicago 1891, S. 73-74.
xx David Duncan: Essays and reviews, Manchester 1861, S. 12.
xxi Claus Bernet: Duncan, David, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, 32, 2011 (im Druck).
xxii Zu Braithwaite fehlt eine modere Biographie; zu Jones siehe jetzt: Claus Bernet: Rufus Jones (1863-1948). Life and bibliography of an American scholar, writer, and social activist, New York 2009.
xxiii Pink Dandelion: The Quakers - A very short introduction, Oxford 2008, S. 108.
xxiv Claus Bernet: Leben zwischen evangelischer Theologie und Quäkertum. Biographische Verläufe im 20. Jahrhundert, in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim, 59, 2, 2008, S. 29-35.
xxv Schon 1959, als Röhr das Quäkertum genauer noch nicht kannte, wendete er sich gegen die Interpretation der Zwei-Reiche-Lehre als einen (staatlich-politischen) Bereich, in dem die christlichen Gebote für die Machtausübung keine Geltung hätten und kritisierte die „merkwürdig unrevolutionäre“ Haltung Luthers auf sozial-politischem Gebiet; Heinz Röhr: Luthers Lehre von den zwei Reichen, in: Der Evangelische Erzieher, 11, 3, 1959, S. 72-84.
xxvi Dass die Eidfrage unter den Quäkern oftmals lediglich in der Theorie besprochen und ansonsten nur noch eine gewisse folkloristische Rolle spielt, die die vielen Pädagogen unter den deutschen Quäkern in keinem Fall davon abgehalten hat, den Amtseid zu leisten, sei hier nur am Rande vermerkt.
xxvii Emil Fuchs: Luthers deutsche Sendung, Tübingen 1917, S. 3.
xxviii Ebda., S. 11.
xxix Ebda., S. 19.
xxx Ebda., S. 25-26.
xxxi Emil Fuchs: Erlösung bei Luther und George Fox, in: Der Quäker. Monatshefte der deutschen Freunde, 14, 5, 1937, S. 130-134.
xxxii Rezension zu Taubes „Wirkungen Luthers“, siehe: Der Quäker. Monatshefte der deutschen Freunde, 16, 9, 1939, S. 286-287. Otto von Taube (1879-1973) war alles andere als ein Nationalsozialist, sondern Literat und Kunsthistoriker, der für seine Werke auch mutig Feldforschungen unternahm. Unter den Nationalsozialisten hatte er Schwierigkeiten, da Taube in seinen Werken vor 1933 übertriebene Deutschtümelei angeprangert hatte.
xxxiii Das lebendige Wort, in: Der Quäker. Monatshefte der deutschen Freunde, 19, 2, 1942, S. 31-32.
xxxiv Bedauerlicherweise wurde versäumt, den Zitaten die Nachweise beizufügen, damit man einmal dem Kontext der Lutherworte nachgehen könnte. Mir ist es nicht gelungen, die Zitate in der WA nachzuweisen.
xxxv Emil Fuchs: George Fox. Seine Botschaft, sein Wesen und sein Leben nach seinen eigenen Denkwürdigkeiten dargestellt. Mit einer Einleitung von Claus Bernet, hrsg. von der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker) e.V. (Bad Pyrmont 2006).
xxxvi Fuchs, Sendung, 1917, S. 45.
xxxvii Fuchs, George Fox, 2006, S. 84. Hier wie auch an anderer Stelle vertritt Fuchs seine Auffassung als Quäker, was ihn notgedrungen mit dem Luthertum seiner Zeit in Konflikt bringen musste. Die Nichtveröffentlichung des Manuskriptes mag seinen Grund auch darin haben, dass Fuchs nach 1945 als Lehrstuhlinhaber einer theologischen Fakultät seinen kirchenkritischen Texten nur noch wenig Interesse entgegenbringen konnte. Zudem hatten die deutschen Quäker 1950 unter großen Mühen eine neue Übersetzung des Tagebuches von George Fox herausgebracht, womit der Bedarf an historischen Schriften zu dieser Zeit erst einmal gedeckt schien.
xxxviii Siehe dazu die Beschreibung der Reise von Fuchs und dem Quäker Leonard Kenworthy 1940 auf die Wartburg, wo Fuchs sich für Fox als den „wahren Prophet der Reformation“ ausspricht, wohingegen Luther „subsequently defected from the truth“; Hans Schmitt: Quakers and Nazis. Inner light in outer darkness, Missouri 1997, S. 184-185.
xxxix Luther hatte auch später in Leipzig zu unterschiedlichen Zeiten gepredigt und zeitweise in der Messestadt gewohnt.
xl Magdalene Hager, u.a. (Hrsg.): Ruf und Antwort. Festgabe für Emil Fuchs zum 90. Geburtstag. Leipzig 1964.
xli Fuchs, Sendung, 1917, S. 263.

xlii Emil Fuchs: Martin Luther - eine deutsche Schicksalsgestalt, in: Evangelisches Pfarrerblatt, 8, 1966, S. 259-263, hier S. 260.

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